TAPFERE SCHNEEWITTE

Antje Horn-Conrad
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Weiß wie Schnee und rein wie Schneewitte
Das Theater SiebenSchuh inszeniert Grimms Märchen ohne Klischees.

Vor kurzem wurde daheim "Piraten auf der Insel“ gespielt. Aus Schuhen und Taschen­lampe war schnell ein Lagerfeuer gebaut. Darüber sollte ein Plüschkarnickel schmoren. In Ermangelung echter Gewürze schnippelte das Kind eine Schüssel voll Papierkräuter, in denen es das Stofftier marinierte...

Beim Besuch des Berliner Theater SiebenSchuh während der Kinderkultur Tage im Waldschloss erschien da manches vertraut: Auf der Bühne saßen zwei ausgewachsene Frauen und bastelten. Von einer Riesenrolle Papier rissen sie das Material für ihre Ausstattung, schnitten, klebten, falteten ein königliches Kleid für die böse Stiefmutter und eine Tasche für Schneewittchen. Ach nein: Es heißt ja "Schneewitte" in diesem Papierschauspiel nach dem Märchen der Gebrüder Grimm. Also kein -chen und kein -lein und kein -klein. Wie gut. Wir werden ernst genommen.

Im Zentrum der lnszenierung von Suse Weiße steht der Konflikt des verlassenen Kindes. Die Mutter starb, der Vater zog in den Krieg. Er könnte allerdings auch, wie so viele Väter, auf nimmerwiedersehen in irgendeinem Bürohaus verschwunden sein. Seine neue schöne Frau weiß mit dem Stiefkind nichts anzufangen, ist kalt und abweisend, grob. Sabine Kolbe spielt die selbstverliebte eitle Stiefmutter. Und Anne Swoboda führt die unschuldig weiße, aber keck dreinblickende Puppe Schneewitte. Manchmal wechseln die beiden Frauen die Rollen, denn: „... eine allein, kann nicht so böse sein“. Die Kinder folgen dem Rollentausch ohne Mühe. Längst haben sie sich mit Schneewitte verbündet. Als das Mädchen auf der Papierrolle balanciert, in ihrem neuen Kleid umhertanzt, vor dem Spiegel posiert und der "Spiegelbraut“ vor Obermut einen Kuss aufdrückt, fährt ein mörderischer Schrei durch den Raum. Schneewitte zuckt verängstigt zusammen, das Kinderpublikum nicht minder. Nie wieder soll Schneewitte dem Spiegel zu nahe kommen, dem Spiegel, der der bösen Stiefmutter verraten hat, daß das Mädchen tausendmal schöner sei, als sie selbst. Aus ihrem papiernen Umhang schneidet sie das Messer, mit dem der Jäger das Kind töten soll. Auch der Schnürriemen, der Kamm und schließlich der vergiftete Apfel werden aus dem königlichen Gewand herausgeschnitten. Jedes Mordwerkzeug reißt ein Loch in die schöne Hülle der bösen Gestalt, bis das Zeichen ihrer Macht nur noch in Fetzen herunterhängt...

Dem Theater SiebenSchuh gelingt eine schlüssige Collage aus einfühlendem Schauspiel, originellem Puppentheater und symbolträchtiger Performance, zusammengehalten von einer Rolle Papier und der Musik von Hermann Naehring. Temporeich begleitet der Percussionist Schneewittes Flucht über die sieben Berge. Und mit einer leisen Klaviermusik betrauert er mit den sieben Zwergen das tote Kind. Die sieben winzigen Kerle, blassgesichtig und liebenswürdig wie Schneewitte, hat Judith Mähler als agile Schlenkerpuppen geschaffen.

Am Ende gibt es noch eine Überraschung: Nicht der Prinz erweckt Schneewitte wieder zum Leben, sondern der Vater, der sich auf sein Kind besinnt, so wie es die ursprüngliche Fassung des Märchens in der ersten Ausgabe der Brüder Grimm von 1812 beschreibt.

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